jazz in e.

Ein Festival aktueller Musik. Jedes Jahr zu Himmelfahrt. In Eberswalde.

Jazz in E. Nr. 20 - Ein Festival aktueller Musik
Das Jubiläumsfestival vom 28. bis 31. Mai 2014

Jazz in E. Nr. 20 - Tagebuch eines Zurückgekehrten

Von Thomas Melzer

Hier das Tagebuch auch als pdf zum download (24 KB)

„Es ist nix, wie es scheint“, singt am vorletzten Abend Klemens Lendl von der Wiener Band „Die Strottern“ - und Recht hat er: 20 Jahre „Jazz in E.“ sind ein geeigneter Zeitpunkt, sich von Illusionen zu verabschieden. Etwa von jener, Festivalgemeinschaft öffne kollektiven Zugang zu musikalischen Sphären, die dem Einzelnen außerhalb jener Himmelfahrtstage versperrt bleiben. Wer zur Musik geht, bringt allein sich selbst mit. Und so sitzt du dann im Konzert von – sagen wir: dem Alexander von Schlippenbach Trio. Du bist ganz frei im Kopf und offen für das Kommende, doch nach 10 Minuten würde dich die Andeutung einer Melodie sehr glücklich machen und nach 20 Minuten fragst du dich, ob inmitten all dieser offen und freiköpfig guckenden, im 3/7-Takt wippenden Menschen du der einzige bist im Saal, der nichts versteht und sein Hemd geben würde für einen Beat. Nach drei Jahren, in denen eine südkaukasische Dienstreise mich von „Jazz in E.“ fernhielt, bin ich zurückgekommen um zu gucken und zu hören, was die Zeit gemacht hat, mit mir und dem Festival.

1. Tag - Kirchturmblasen

Der Himmel über „Jazz in E.“ trägt Festivalshirts. Wie die Geister einer glorreichen Vergangenheit flattern die von Matthias Schwarz gestalteten Textilien im Luftraum über Lars Fischer. Eine kleine inoffizielle Umfrage kürt den Vorjahrespulli zum schönsten. Lars Fischer ist heute im „Glaszwischenbau“ der Aktivisten-DJ vom Dienst. Dass er ein Mann der ersten Stunde dieses Festivals ist, wird bereits daran deutlich, dass bei ihm noch echte Tonträger auf dem Pult liegen. Bei Julia Hebestreit, zwei Tage später, wird dort nur noch ein Rechner stehen.
Udo Muszynski trägt einen Bart und sieht jetzt aus wie Richard Branson, der Gründer des Virgin-Labels, dem inzwischen auch eine Fluggesellschaft gehört. Seine Moderation der Festivalabende ist so entspannt, dass nur eine Frau dahinter stecken kann - oder eine auf 19 erfolgreichen Festivaljahren beruhende Gelassenheit. Einzeln ruft er die acht Musiker der Ulrich Gumpert Workshop Band auf die Bühne, jeden mit ein paar Worten persönlicher Zuwendung. Da erinnert man sich, wie der Saxophonist Rudi Mahall einmal erklärte, warum Künstler gern nach Eberswalde kommen: „Andere Veranstalter haben nur Angst, dass man ihnen den Keller leersäuft. Aber bei Udo Muszynski in Eberswalde, da ist jeder Musiker ein Star.“
Leisten kann sich „Jazz in E.“ seine großen und kleinen Stars seit vielen Jahren dank der verlässlichen Unterstützung durch die Sparkasse Barnim, die Stadt und den Landkreis. Als ich Deutschland verließ, war Josef Keil noch Vorstandsvorsitzender der Sparkasse. Auch wenn er damals für sein traditionelles Sponsorengeleit schon mal die Krawatte abnahm, die Ärmel hochkrempelte und von der Jazzbühne verkündete: „Ich bin stolz, ein Eberswalder zu sein“, argwöhnten nicht wenige, der konservative Kulturbürger aus dem Rheinischen erfülle in der Höhle des Atonalen nur tapfer seine dienstliche Pflicht. Nun ist Josef Keil Privatier und belehrt die Zweifler eines Besseren: „Freiwillig“ erscheint er (im roten Pullover) zum Eröffnungsabend. Und nicht nur dieser Gast offenbart durch seine Anwesenheit die Wertschätzung des Eberswalder Festivals im Märkischen und darüber hinaus. Niklaus Troxler sitzt im Publikum! Der Schweizer hat das renommierte Jazzfestival in Willisau geprägt. Zudem kann er als Grafiker ein berühmtes Lebenswerk an Jazzplakaten vorweisen. Mit Udo Muszynski besuchte ich einst eine Ausstellung mit Troxler-Plakaten im Berliner „Club der polnischen Versager“. Fasziniert standen wir vor einem abgeschnittenen grünen Finger, der ein Konzert von Cecil Taylor ankündigte. Diesem Pianisten habe ich ein Schlüsselerlebnis in meiner Annäherung an die improvisierte Musik zu verdanken. Das Cecil Taylor Trio spielte im legendären „Blue Note“ in Manhattan, dritte Straße. In atemberaubender Kostümierung erschien der Pianist auf der Bühne, präsentierte grußlos einen sperrigen, namenlosen Einstundenbrocken und verschwand so stumm, wie er gekommen war. Währenddessen vertilgten um uns herum übergewichtige, goldgeschmückte Amerikaner sündhaft teure Riesenportionen gegrillter Scampi zu Chardonnay, palaverten unentwegt und nahmen vom stoisch clusternden Pianisten und seiner rätselhaften Musik kaum eine Notiz. Freejazz als Accessoire dekadenten Lifestyles, das kannte ich aus Deutschland nicht. So erschien mir Taylors antikulinarische Klimperstunde als plausible Form des Klassenkampfes – während ich mich später in Veranstaltungen des Eberswalder Begegnungszentrums „Wege zur Gewaltfreiheit“ gelegentlich fragte, wer dort auf der Bühne eigentlich gegen wen kämpft. (Und warum es in den Pausen nix anderes gibt als belegte Brötchen.)
Als ich nach Deutschland zurückkam, war gerade einer der Jazzaktivisten gestorben, „Kulturverstärker“ Jens Köckritz. Wir verabschiedeten uns von ihm in der PurPur-Aue des Forstbotanischen Gartens. Während am schönsten Ort, den Eberswalde für derlei Einkehr zu bieten hat, in den Bäumen die Vögel musizierten (und unter benachbarten Bäumen die Autos von Trauergästen aufgebrochen wurden, was den Tätern, wenn schon keine irdische Gerechtigkeit, dann auf jeden Fall ewiges Fegefeuer einbringen wird), schickte am Boden ein Saxophonist dem toten „Jazz in E.“-Mitstreiter traurig-verwehte Klänge hinterher. Drei Wochen später steht Henrik Walsdorff mit der Ulrich Gumpert Workshop Band auf der Festivalbühne, um das Jubiläumsprogramm zu eröffnen.
Dieses Konzert lässt sich auch als Soundtrack deuten zur zeitgleich im nahegelegenen Schloss Neuhardenberg eröffneten Großausstellung „Helden erinnern“. Der Eberswalder Jazz setzt dem genregemäß frei Bertolt Brecht dagegen: „Unglücklich ein Festival, das Helden nötig hat!“ Freilich ist der große Jazzpianist Ulrich Gumpert durchaus Objekt allgemeiner Legendenbildung und Heldenverehrung. Am Eberswalde Steinway versucht er sich dem durch längeres Nichtstun zu entziehen, was seinen Ruf aber eher befeuert. Im Habitus eines alten Raben, den Schnabel aufwärts zu den Noten (!) gereckt, die Flügel seitlich herabhängend, verfolgt er konzentriert und sichtlich vergnügt das tollende Spiel der jungen Raben neben ihm. Fünf Bläser liefern sich hier schönste Schnabelkämpfe am Nestrand, mal alle miteinander, mal einer gegen alle. Als Nestältester gibt der Posaunist Christof Thewes den Ton an und der ist meist luftig, oft hymnisch und gelegentlich schön wie ein Kirchturmblasen zu Weihnachten. Was mir an diesem Eröffnungsabend mal wieder bewusst geworden ist: Es bereitet Freude, Jazzmusikern beim Spiel zuzusehen. Die meisten habe „gute“ Gesichter; offen, intelligent, skurril, verschmitzt – in unterschiedlichen Gemengelagen. Wer die Ulrich Gumpert Workshopband erlebt hat, versteht, was ich meine. Doch halt, was macht da Jan Josef Liefers auf der Bühne? Ach nein, es ist doch nicht der TV-Gerichtsmediziner, der Doppelgänger erweist sich als Jan Roder am Bass.

2. Tag - Udo „Amazon“ Muszynski

Der Spirit dieses Festivals wird auch in seinen gastronomischen Konventionen deutlich. Wer etwa einen Radler trinken will, verpflichtet sich zum späteren Kauf eines zweiten. Eine Flasche Zitronenlimo reicht nämlich für zwei Mischungen, allerdings strikt und ausschließlich personengebunden. So sammelt sich vor Konzertbeginn im Kühlschrank der Wiese-Wirtschaft eine Batterie halbvoller Limoflaschen. Wer in der Pause dann doch lieber pures Bier trinken würde, hätte ein Leichtes, die Wirtin auf ihren nicht bezahlten halbvollen Flaschen sitzen zu lassen. Aber das ist Eberswalde: Es macht keiner! Gesellschaftliche Verabredungen stehen höher als egoistischer Durst. Und wie wohlerzogen dieses Publikum ist!
In Baku klingelten um uns herum unaufhörlich die Flachphone, und keine Arie dieser Welt vermochte die Leute davon abzuhalten, Anrufe auch anzunehmen. Deutschlands Botschafter Herbert Quelle, der als Pianist gelegentlich in Wohltätigkeitsveranstaltungen auftrat, setzte dem einmal eine Fassung des berühmten John Cage-Stückes „4‘33‘‘ entgegen: „4‘33‘‘ for the mobile age“. In dem ebenso langen Stück saß John Cage am Flügel und kultivierte die absolute Stille. Auch Quelle spielte keine einzige Note, allerdings waren es klingelnde (gezielt angerufene) Handys im Publikum, die ihn vom Spielen abhielten. Manche Aserbaidschaner verstanden die Inszenierung erst mit ihrer Pointe, als auch Quelles Telefon auf dem Piano klingelte. Wer solches erlebt hat, weiß es umso mehr zu schätzen, wie still und konzentriert es bei „Jazz in E.“ zugeht. Naja. Ausgerechnet im Konzert des Michael Wollny Trios scheppern ein paar Biergläser über den Boden und vermasseln dem rbb-Kulturradio seine Aufnahmen.
Gestern lag der Altersdurchschnitt im ausverkauften Saal des Paul-Wunderlich-Hauses ziemlich exakt vier Jahre höher als bei meinem letzten Festival 2010. „Jazz in E.“ wird - bei gesunder Lebensweise seiner Aktivisten - den 50. Jahrgang gerade noch erreichen und dann ein biologisches Ende nehmen. Auf der Bühne mangelt es nicht an jungen Leuten, davor leider sehr wohl. Kein Mensch käme angesichts des ergrauten Publikums auf die Idee, Eberswalde sei eine Studentenstadt. Im heutigen Konzert sieht es demografisch etwas besser aus; die hübsche Susanna aus Norwegen ist mit ihrer wundervollen Stimme keine explizite Jazzsängerin und schon lässt sich etwas Jungvolk darauf ein. Auch unser Jüngster ist dabei, quasi auf musikalischer „Tour de Tolerance“ in Eberswalde. Nach der Pause allerdings dauert es keine zehn Minuten, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fällt und der Altersschnitt im Saal um zwanzig Jahre in die Höhe schnellt. Das Alexander von Schlippenbach Trio hat ihn in die Flucht geschlagen. Andere folgen bald, die Reihen lichten sich. Früher dachte ich bei solchen Josef Keil- & Massenfluchten: Mist! Wer hier einmal vorzeitig abhaut, ist für das Festival auf immer und ewig verloren. Doch das stimmt nicht, wie die Erfahrung zeigt. Die grundsätzliche Festivalerwartung ist so positiv, dass ihr einzelne individuelle Enttäuschungen nichts anhaben können.
Auch mich erreicht die Musik des Alexander von Schlippenbach-Trios nicht. Ich drifte ab. Das minutenlange, kraftvolle, geradezu maschinenhafte Circular Breathing (gleichzeitiges permanentes Ein- und Ausatmen beim Spiel eines Blasinstrumentes) des britischen Saxophonisten Evan Parker erinnert mich daran, wie ich einst lernen wollte, Didgeridoo zu spielen. Circular Breathing übe man am besten mit einem leicht verdrehten, in ein wassergefülltes Glas gestellten Trinkhalm, war mir empfohlen worden. Beim angestrengten und letztlich vergeblichen Probieren kollabierte ich fast. Heute würde ich kollabieren, müsste ich 90 Zeitungszeilen über diese Musik schreiben. Musik zu beschreiben ist schwer genug, die Musik des Alexander von Schlippenbach-Trios ist unbeschreibbar. Und schon gar nicht zu bewerten. Da offenbart sich ein weiterer Vorzug der „Jazz in E.“-Community: Es gibt hier die Neunmalklugen nicht, die anderswo immer ein Urteil parat haben. Man findet sie dagegen natürlich im Internet, etwa als Autoren epischer Kundenrezensionen unter den Musikangeboten von Amazon. In Vorbereitung des Konzerts von Susanna hatte ich mich dort umgeschaut und eine einzelne angenehm weise Aussage gefunden: „Der Download funktionierte einfach und problemlos. Die Musik des Albums ist sehr ruhig, natürlich Geschmackssache und kann nur subjektiv bewertet werden.“
Diese Beschreibung trifft perfekt das „Jazz in E.“-Prinzip: Udo Muszynski organisiert den problemlosen Zugang zu vier Konzerten. Der Rest ist Geschmackssache.
Längst hat es von Maria Magdalenen elf geschlagen, durch menschenleere Straßen strebt die Familie zum Auto. „Und hier hast du also mal gelebt?“ fragt das Kind, mit einem Unterton, der mich kurz den Vorsatz vergessen lässt, pubertäre Provokationen nicht handgreiflich zu beantworten. Wenn es allerdings mit seiner Frage zum Ausdruck bringen wollte, ob Bürgermeister Boginski an diesem Himmelfahrtsabend eine nächtliche Ausgangssperre verhängt hat und warum es ggf. dagegen keinen zivilen Ungehorsam gibt, wäre die Frage nicht unberechtigt. Vom Kirchberg pfeift eine letzte Amsel. Ohne Udo „Amazon“ Muszynski und seine Jazzaktivisten gehörte ihr Eberswalde exklusiv.

3. Abend - Freitags wird gebadet

Gibt es den Frickelfreitag noch? Aber ja doch, frickliger denn je, diesmal mit dem Dresdner Duo „Sammeltonium Wunderland“, zwei sächsischen Messis, die der schönen Legende nach durch Elbflorenz ziehen und im herumliegenden Sperrmüll nach allem Ausschau halten, was irgendwie Eigenklang verheißt. So stehen/hängen/liegen dann auf der Bühne Fahrzeugfedern/Kreissägeblätter/Abflussrohre/Wok-Topf/etc. und werden getupft/gestrichen/geklöppelt. Wie es sich für einen analogen Freitagabend gehört, steht dort auch eine Badewanne. Mein persönlicher Favorit ist – schon der paradoxen Symbolik wegen – ein elektrisch verstärkter DDR-Handkurbelrührer. Nach zehn Minuten Schlagsahnetrockenfrickelei sagt mir meine Erfahrung, dass sich der klangliche Reiz des Arsenals jetzt gleich erschöpfen wird. Ein Irrtum, er beginnt sich erst richtig zu entfalten. Jan Heinke und Damian Kappenstein verbreiten einen köstlichen musikalischen Spaß - und das im Wortsinn und wohltuenden Unterschied zum humorlosen Bierernst einiger früher auf diesem Programmplatz performender Frickelfreunde. „Die einstürzenden Neubauten aus Dräsdn“, fasst Sven Wallrath die hübsche Überraschung zusammen und wer ihn kennt weiß, dass dies einer Heiligsprechung nahe kommt. In der abschließenden Festivalwertung geht jedenfalls der Fairplay-Pokal an die sympathischen Sammeltöner. Im zweiten Konzert des Abends, als sie von den „Strottern“ für ein improvisiertes Zusammenspiel noch einmal auf die Bühne gerufen werden, erweist sich nämlich, dass sie die effektvollste Darbietung ihres Programms aufgehoben haben, um sie mit den Wienern zu teilen: Jan Heinke spielt Querflöte - auf einer ordinären höhenverstellbaren Gehhilfe! Irgendwie fehlen jetzt nur noch Guildo Horn und die orthopädischen Strümpfe.
Zu jenem Zeitpunkt waren nicht nur – ungewöhnlich für einen Frickelfreitag – noch keine Besucher vorzeitig gegangen, sondern der Frickelfreitag gar kein Frickelfreitag mehr. Zum „Fundgrubenfreitag“ solle er künftig werden, verkündet Udo Muszynski in seiner Zwischenmoderation, was – soweit ist es schon gekommen! - mich beinahe wehmütig stimmt. Der folgende Fund ist dann aber tatsächlich einer, den nur ein Festival bietet, dessen Programmgestaltung man sich blindlings anvertrauen kann. Die „Die Strottern & Blech“ hätte ich – wie wohl alle Besucher dieses Abends – ohne „Jazz in E.“ nie kennen gelernt. Und wir wären irgendwann erheblich ärmer gestorben. Gitarre, Harmonium, Geige, Posaune, Trompete, Gesang. Witzige, intelligente Texte. Dieser einzigartige Wiener Wortklang. „Wenn sie uns nicht verstehen, denken sie sich einfach, wir sängen portugiesisch“, weist Klemens Lendl einen Weg an der möglichen Sprachbarriere vorbei. Aber das kenne ich schon aus dem Südkaukasus: Wenn man verstehen will, versteht man auch. Es wird das erste Konzert dieses Festivals, das mich komplett in den Bann zieht. „Kurz zusammengefasst geht es in unseren Liedern immer darum, dass wir eine Euphorie erzeugen, die nie lange hält, sondern meist in eine Katastrophe mündet.“ Das ist natürlich kokett und völlig an der Realität vorbei. Die Wanne aus Dresden steht noch immer auf der Bühne und das Eberswalder Publikum badet bis zur Hautablösung in Euphorie.

4. Abend - Das Ende der Dekonstruktion

Reden wir über Eric Schaefer! Wir könnten natürlich auch über Michael Wollny reden, aber das wäre ein trauriges Thema. Michael Wollny werden wir in Eberswalde – wenn es nur halbwegs gerecht zugeht in dieser Musikwelt – nie wieder zu sehen und zu hören bekommen. Eberswalde wird sich diesen - vielleicht schon jetzt größten, auf jeden Fall aber hoffnungsvollsten - deutschen Jazzmusiker schlicht und einfach nicht mehr leisten können. Es war jetzt schon ein Wunder, dass Udo Muszynski die Rechnung noch begleichen konnte. Das Michael Wollny Trio wird im internationalen Jazz absehbar jenen populären Platz besetzen, den einst das Esbjörn Svensson Trio einnahm und der seit dem Unfalltod des namensgebenden schwedischen Pianisten verwaist ist. Mehr noch als dieser bringt Michael Wollny klassische Verwurzelung und einen geradezu traumwandlerisch sicheren Geschmack mit. Kompositionen von Paul Hindemith und den Flaming Lips im Konzert (und auf der aktuellen Platte „Weltentraum“) nebeneinander zu stellen, darauf kann nur kommen, wer in einem sehr weiten Musikuniversum unterwegs ist, dort die Grenzen zwischen Klassik und Moderne längst durchbrochen und damit im schönsten Sinne Freiheit erlangt hat. Den altvorderen Freejazzern wird das wahrscheinlich nicht behagen. Für sie ist Wollny möglicherweise ein Neokonservativer, ein Romantiker, gar ein Populist. Vielleicht ist es ja aber auch einfach nur so, dass im modernen Jazz über all dem Dekonstruieren die Geschichten und die Gefühle zu kurz gekommen sind. Das Bedürfnis nach beidem wird von Michael Wollny jedenfalls aufs Großartigste erfüllt.
Doch wir wollten ja über Eric Schaefer reden. Mehr noch als ein Michael-Wollny-Abend war der letzte Abend von „Jazz in E.“ nämlich ein Eric-Schaefer-Abend. Das begann schon am Nachmittag, als in der benachbarten Schweizer Straße bei einem Geburtstagsgartenfest des stadtbekannten Professors Jürgen Peters eine Schülerband spielte, deren Gitarrist vor etlichen Jahren von Eric Schaefer im Schlagzeugspiel unterwiesen wurde. Meiner unsicheren Erinnerung nach war es im Anschluss an das Jazz in E.-Konzert mit Carlos Bica Azul im Familiengarten, als einige Eltern erschienen und den Autor dieser Zeilen um Vermittlung beim Drummer jener Formation baten. So geschah, dass Eric Schaefer fortan einige Male nach Eberswalde reiste und für Kinder im Grundschulalter Schlagzeugworkshops betrieb. Wahrscheinlich waren es, im Rückblick, Schaefers erste Meisterschüler, wobei der Autor dieser Zeilen zugeben muss, dass er damals in Eric Schaefer noch nicht jenen außergewöhnlichen Schlagzeuger erkannte, der er heute ist. Anders als Udo Muszynski, der (in musikalischen Überzeugungen gelegentlich ein Ajatollah) schon damals daran keine Zweifel erlaubte. Beim legendären Jazz in E.-Abend auf dem Parkdeck des Paul Wunderlich-Hauses ermöglichte er Schaefer einst sogar eine Solodarbietung, deren percussive, keinesfalls souveräne Verspielt-heit Lichtjahre von jenem Eric Schaefer entfernt scheint, der im Jahr 2014 in Eberswalde zu erleben ist. Darf man ihn noch Schlagzeuger nennen? Schwerlich, denn zwar ist er das in einer faszinierenden Variabilität und Prägnanz, aber mehr noch als für den Rhythmus des Trios ist Schaefer für dessen flirrenden Sound verantwortlich. Dass er leichthändig konzentrierte Arbeit verrichtet, ist im Konzert daran zu erkennen, dass Schaefer – so wie ein Sprinter auf der 100 Meter-Distanz nur zweimal Luft holt – etwa alle 83 Takte wie ein Fisch nach Luft schnappt. Aber er schwitzt nicht.
Am Ende dieses bejubelten letzten Konzertabends tat sich ein schwarzes Loch auf, so wie immer in den 19 Jahren zuvor, wenn „Jazz in E.“ wieder einmal zu Ende war. Dr. Motte-Muszynski hat deshalb vor einiger Zeit die Therapie ersonnen, im Festivalausklang den Blues wegzutanzen, wozu diesmal das „Herrnhuter House Ensemble“ ganz trefflich animieren konnte. Doch dann schlich, fast unbemerkt, der kleine Eric Schaefer an uns vorbei, durch das Foyer zum Ausgang, seine Tochter an der Hand und das Paiste-Schlagwerk auf dem Rücken, und mir wurde schmerzlich bewusst: Seit 13 Jahren spielt er nun schon mit Wollny zusammen. Die beiden wären irre, das zu ändern. Wenn wir aber Wollny in Eberswalde nicht mehr hören werden, wird auch Schaefer nicht mehr kommen. Es sei denn, Schnappatmung wird zum Motto des nächsten Festivals.

Thomas Melzer, Jahrgang 1962, ist von Beruf Richter. Er schrieb Theaterstücke, betrieb eine Fotogalerie und arbeitete als freier Mitarbeiter für das Feuilleton der „Berliner Zeitung“. 2008/2009 drehte er gemeinsam mit Antje Dombrowsky den 90-minütigen Dokumentarfilm „Die Aktivisten. Wie der Jazz in die Stadt kam“, in dem die Jazzszene in Eberswalde beleuchtet wird.

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