jazz in e.

Ein Festival aktueller Musik. Jedes Jahr zu Himmelfahrt. In Eberswalde.

Jazz in E. Nr. 16 - Ein Festival aktueller Musik
12. bis 15. Mai 2010 - Volksmusik

Alphornklänge aus unserer Schweizer Heimat

Mein "Jazz in E."-Festival-Tagebuch (1)
Von Thomas Melzer
Ritter Seit Mittwochabend ahne ich, dass das Emmental näher am Finowtal liegt als gedacht. Und dass Eberswalder Kanaldeutsch ein Sprachzweig des Schwyzerdütsch sein muss. Um das und die Freude zu verstehen, die der Auftritt des Schweizer Alphornbläsers Balthasar Streiff zum Auftakt von „Jazz in E.“ ausgelöst hat, muss man wohl tief in die Geschichte steigen. Nach dem 30-jährigen Krieg wurde die dezimierte Eberswalder Bevölkerung durch mehr als eine Straße voll Schweizer Handwerksfamilien aufgefüllt, die fortan ihre Gene prächtig streuten. Seitdem fließt durch jeden Eberswalder ein erklecklich Teil Schweizer Blut. Mit Balthasar Streiff kam nun die Volksmusik nach Hause. Auf großen und kleinen Hörnern erzeugte Streiff in Eberswalde ein ganz wunderbares Echo. Zwischen den Stücken stellt er postum die Kühe und Schafe vor, von denen sein Hörner stammen. Die Sturheit der Eberswalder muss auch etwas schweizerisches sein. „Vorverkauf“ mahnte seit Wochen jede Festivalvorschau und dann steht doch wieder eine Traube Kurzentschlossener vor ausverkauftem Hause. Darinnen verkündet Generalsekretär Muszynski gerade den kommenden „Jazz in E.“-Fünfjahrplan: Nach Volksmusik in diesem Jahr soll es Tanzmusik im nächsten geben. Brunvoll Die Finanzierung sei gesichert, versichert anschließend die geldgebende – nach eigenem Bekunden vorerst durch keine Wahl gefährdete – „Dreieinigkeit“ Boginski-Ihrke-Keil. Dass Josef Keil auf der Bühne demonstrativ den Schlips ablegt, gehört inzwischen zur „Jazz-in-E.“-Eröffnung wie Miss Sophie zu Silvester. In der Pause gab es dann „Varieté in E.“, aber festivalgemäß echt improvisiert. An zwei von der Decke des Glasfoyers hängenden roten Fahnen demonstrierte die in Eberswalde lebende Vertikalartistin Chris Ritter eine ganz und gar beeindruckende Körperbeherrschung, wozu Balthasar Streif das Horn blies. Nachdem das Publikum dreimal tief durchgeatmet hatte, gab es prasselnden Applaus. Und danach, zurück im Saal, das Konzert der Norwegerin Mari Kvien Brunvoll. An diesem lässt sich das Prinzip von „Jazz in E.“ gut erklären: Brunvolls Musik klingt wie jene der amerikanischen Schwestern CocoRosie vor vielen Jahren. Da waren CocoRosie noch originell und faszinierend. Inzwischen sind sie ausgebrannt und belanglos, stellen dieser Tage aber mit viel Tamtam und für teuren Eintritt im Berliner Admiralspalast ihre neue Platte vor. Mari Brunvoll hat keinen berühmten Namen, aber eine glockenklare Elfenstimme, ist frisch, voller Ideen auf der Suche nach ihrem Weg - und für wenig Geld in Eberswalde zu erleben. Man muss wirklich nicht nach Berlin fahren. Karten für das heutige Konzert gibt es übrigens noch an der Abendkasse.

Lachen und Traurigkeit an einem Abend

Mein "Jazz in E."-Festival-Tagebuch (2)
Himmelfahrt, zweiter Festivaltag. Vom Flughafen Tegel hole ich die Pariser Band „Das Kapital“ ab. Welch ein Bild: Im kampffahnenroten Bus der kapitalistischen Sparkasse Barnim stehe ich mit einer nach Marx’ Hauptwerk „Das Kapital“ benannten Kapelle am Eberswalder Karl-Marx-Platz an der roten Ampel. Am Abend werden die drei Musiker zwar fast ausschließlich Hanns-Eisler-Kompositionen spielen, aber immerhin nicht die DDR-Nationalhymne. Wo der DDR-Staatskomponist Eisler propagandistisch dick aufgetragen hat, leistet Gitarrist Hasse Poulsen ironische Bombenentschärfung. Das Stück „Wonderland“, erläutert er zwinkernd, „is about how wonderful Deutsche Demokratische Republic was. “ Es wird viel gelacht an diesem Abend und das ist ohnehin die beste Mischung, Jazz und Lachen. Jazz und ernste, vergrübelte Gesichter, das ist meist furchtbar.
Elina Duni Beim Auftritt von Elena Duni, der albanischen Sängerin, und ihrer drei Musiker aus der Schweiz erscheinen die Gesichter im Publikum berührt. Es geht viel um Trennungsschmerz in ihren Liedern. Als Tonlage regiert „die fröhliche Traurigkeit des Balkan“ und vor einem Lied warnt sie, dass wir sogleich den „Gipfel des Balkan-Pathos“ erreichen werden. Dabei ist die kleine Frau von fröhlichem Naturell. Sie erzählt, sie habe sich eingesungen in den verzweigten Gängen des Hauses vor den von Paul Wunderlich geschaffenen Porträts. Das sei auf verschiedene Weise inspirierend gewesen. Schade, ich wäre gern dabei gewesen, als sie vor Brecht sang, vor Voltaire oder gar Hitler-Stalin-Mao. Nicht auszudenken, die Porträtierten wären erweckt worden, wie auf den Gemälden in Harry Potters Zauberschloss Hogwarts. Die Grenzen sind fließend im freien Jazz. Vor vier Wochen sei sein Vater gestorben, erzählt „Kapital“-Schlagzeuger Edouard Perraud später beim Bier. Am Abend danach habe er bereits wieder auf der Bühne gestanden. Das Improvisieren in der Musik erlaube es ihm, seine Trauer auszuhalten.

Vorwärts und nicht vergessen -
„Das Kapital“ erinnert beim Eberswalder Jazzfestival an Hanns Eisler

Kapital Himmelfahrt im Eberswalder Zoo. An den Kassen legitimiert sich die frühere Arbeiterklasse en gros als arbeitslos. In Tegel fliegt die Pariser Jazzband „Das Kapital“ ein. Im Zoo feiert man zu „Anton aus Tirol“. Im städtischen Kulturtempel, benannt nach dem bekennenden Karl-Marx-Verächter Paul Wunderlich, spielt „Das Kapital“ eine fulminante Improvisation auf das Hanns-Eisler-Stück „Ohne Kapitalisten lebt es sich besser“. Der Lichtmann richtet einen Spot auf Karl Marx; links neben der Bühne, Acryl auf Leinwand, von Paul Wunderlich mit verkniffenen Schweinsäuglein ausgestattet und in ein Fadenkreuz aus Streichhölzern gesetzt. Derlei Spannung liegt an zwischen den Polen beim diesjährigen Festival „Jazz in E.“, wenngleich nicht immer so politische wie beim wahrscheinlich schon jetzt besten Konzert der viertägigen Veranstaltung. Daniel Erdmann (Saxophon), Hasse Poulsen (Gitarre) und Edouard Perraud (Schlagzeug) spielen ein reines Hanns-Eisler-Programm. Sie haben sich vor acht Jahren nach einer Jamsession in Paris verbrüdert in der Mission, mit Eisler einen der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts vor dem Vergessen bewahren zu wollen. Tatsächlich leisten sie weit mehr als Mausoleumspflege. In Frankreich haben sie Eisler erst bekannt gemacht. In Ostdeutschland befreien sie ihn – was als Verdienst wohl noch höher zu bewerten ist - vom Stigma des Staatskomponisten, dessen umfangreiches Propagandaverzeichnis die DDR-Nationalhymne krönt. Eislers Kompositionen der 40-er und 50-er Jahre seien besser, reicher, komplexer als jene seines DDR-Schaffens, sagt Gitarrist Poulsen. Doch selbst letztere, die im Programm dominieren – weil die Rechte hierfür leichter zu bekommen waren als für die älteren Stücke – überraschen in der von Text und Kontext entkleideten „Kapital“-Fassung als zeitlos klassische Jazzstandards. Einem Dänen, (West-)Deutschen und Franzosen auf der Bühne fällt das unbefangene, souveräne Spielen allerdings offenbar leichter als das Hören dem ostdeutschen Publikum davor. Aus Erdmanns kraftvoll gespieltem Saxophon dröhnen die ersten Takte des Solidaritätsliedes und sofort schweben Brechts Worte wie eine Marienerscheinung im Saal, „Vorwärts und nicht vergessen...“. Die freie Improvisation beginnt und wer sich jetzt von Assoziationen nicht freimachen kann, hat sogleich die Geschichte der Arbeiterbewegung seit August Bebel im Kopf.

Für Udo M. keine Dienstreise in Aussicht

Mein "Jazz in E."-Festival-Tagebuch (3)
Mortazawi Es war spät in der Nacht, das Paul-Wunderlich-Haus längst entvölkert, da plante Udo Muszynski eine Fortbildungsreise. Welches Festival kannst du mir empfehlen, fragte er Werner Hasler, wo ich für Eberswalde noch was lernen kann? Hasler, Schweizer Musiker, mehrsprachig, weit gereist, dachte lange nach – und musste passen. Es gibt momentan, sagte er, kein Jazzfestival mit einem vergleichbar interessanten Programm und einer ähnlich guten Atmosphäre. Am Abend darauf, das Haus war erneut ausverkauft, saß Mohammad Reza Mortazavi auf der Bühne. Der junge Iraner spielt Daf und Tombak, traditionelle persische Rahmentrommeln. Er spielte fast eine Stunde; nur er, seine Trommeln und seine zehn Finger. Jeder dieser Finger kann zur selben Zeit einen anderen rasanten Rhythmus, einen anderen orchestralen Klang erzeugen. Und als Mohammad Reza Mortazavi fertig war, gab es keinen Applaus. Es war ein Jubel, der losbrach und den Musiker wieder und wieder auf die Bühne holte. In der improvisierten Musik gibt es kein Richtig und kein Falsch, hatte der dänische Gitarrist Hasse Poulsen Tage zuvor gesagt: Sehr wohl aber ein Gut oder Schlecht. An diesem Festivaljahrgang lässt sich selbst mit kritischer Distanz kaum etwas auch nur minder Gutes finden. Dabei, und das ist vielleicht die eigentliche Leistung, blieb das Festival seinen Wurzeln treu. Mit Andreas Advocado stand am Abschlussabend ein Musiker auf der Bühne, der schon beim familiären Jazz in E. Nr. 1 die legendäre Garage bespielte. Nach 1996 ließ auch 2010 wieder die türkisch-deutsche Band Orientation die Konzertabende mit einer Tanzparty ausklingen. Jazz im E. ist im Stadium der Euphorie angelangt. Alle, die dabei waren, feierten ein bisschen auch sich selbst. Und davon lässt sich noch ein Weilchen zehren.

Thomas Melzer, Jahrgang 1962, ist von Beruf Richter; gegenwärtig arbeitet er als Pressesprecher für das Brandenburgische Justizministerium in Potsdam. Er schrieb Theaterstücke, betrieb eine Fotogalerie und arbeitet als freier Mitarbeiter für das Feuilleton der „Berliner Zeitung“. 2008/2009 drehte er gemeinsam mit Antje Dombrowsky den 90-minütigen Dokumentarfilm „Die Aktivisten. Wie der Jazz in die Stadt kam“, in dem die Jazzszene in Eberswalde beleuchtet wird.

Alle Fotos: Torsten Stapel
www.torstenstapel.de

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