jazz in e.

Ein Festival aktueller Musik. Jedes Jahr zu Himmelfahrt. In Eberswalde.

Auszeit auf dem Innenhof

Ein Interims- Blog zu „Jazz in E.“ 2020
Von Thomas Melzer

Nach dem Kalender vor einem Jahr, nach meinem Gefühl vor einer Ewigkeit, hatte Udo Muszynski zu einem „Zwischen-den-Festivals“-Event auf den Eberswalder Marktplatz geladen. Das gab es noch nie. Im Rahmen von „Guten Morgen Eberswalde“ spielten an diesem Samstagmorgen Pierre Dørge & das vielköpfige New Jungle Orchestra. Eigentlicher Grund für dieses – auch vor der Bühne überaus vielköpfig besuchte – Jazzkonzert war, dass Udo M. in angemessenem Rahmen das Motto für „Jazz in E.“ 2020 höchstselbst verkünden und erläutern wollte. Offenbar der zahlreichen spekulativen Deutungen früherer Festivalmotti (wohl auch durch den Autor dieses Blogs) überdrüssig, wollte er die Deutungshoheit zurückerlangen.

Das Septemberwetter ermöglichte ihm eine großartige Inszenierung. Noch kurz vor Konzertbeginn regnete es, weshalb die Bühne unter einer großen Plane steckte, die von etlichen Jazz-Aktivisten gehalten wurde. Sekunden, nachdem Udo M. unter dieser Plane hervorgeschlüpft gekommen war und zur Begrüßung anhub, versiegte der Regen und die Sonne brach durch. Zugleich mit der Vorstellung der auftretenden Künstler zogen die Aktivsten die Plane hinweg und das Dschungelorchester kam zum Vorschein. Offenbar selbst zutiefst beeindruckt von dieser wirklich beeindruckenden Dramaturgie, vergaß Udo M. die Ankündigung von „Jazz in E. 2020“. Als er diese 90 Minuten später nachholte, inmitten des allgemeinen, beglückten, aber auch erschöpften Aufbruchs, reichte der Atem nur noch für eine Kurzbotschaft: „Eisen und Stein“. „Eisen und Stein“ also. Kein Marmor? Würde „Jazz in E.“ 2020 Drafi Deutscher huldigen? Wenn ja, in welcher Beziehung steht Udo M. zu dem 2006 verstorbenen Schlagerbarden? Wie kann in ein und demselben Herzen Platz sein für Frank Zappa und Drafi Deutscher? Oder doch eher eine Metapher auf „Eisen Union“ und einen Rolling Stone? Charlie Watts wahrscheinlich, Schwerpunkt also Schlagzeug. Es war wie immer: „Jazz in E.“ stand an und zu Beginn Fragen über Fragen. Und das Kalkül ging auf: Neugier und Vorfreude auf Himmelfahrt 2020 wuchsen von Tag zu Tag. Anfang des Jahres begab sich Udo, wie immer in den letzten Jahren, in Klausur an die Ostseeküste, um Musik zu hören, Jazztexte zu lesen, Tourneedaten zu studieren, E-Mails zu schreiben, Telefonate zu führen – und mit dem fertigen Festivalprogramm zurückzukehren.

Und dann kam Corona.

Mitte März schrieb Udo in einer Mail an die Jazzaktivisten: „Bzgl. Jazz in E. bin ich nicht wirklich optimistisch. Ich rechne schon bald mit den Absagen der amerikanischen, französischen, österreichischen und Schweizer Künstler, die kommen ja nicht mehr aus ihren Ländern raus (bzw. dann wieder zurück) und zugleich höre ich gerade, dass Deutschland morgen dicht macht. Wie wir das alles finanztechnisch hinbekommen, ist mir noch nicht klar, schließlich haben wir schon sehr viel für das Festival gearbeitet, Flüge und Anzeigen bezahlt, Verträge gemacht... Wie verhalten sich unsere Fördermittelgeber, unsere Sponsoren?“  Am 8. April schließlich verkündete er in einer Rundmail an die „lieben Kulturfreundinnen und Kulturfreunde“ die Entscheidung, „die diesjährige Ausgabe von Jazz in E. vom Mai in den November zu verschieben. Unser Himmelfahrtstermin ist leider nicht zu halten - wir feiern unser Jazz in E. Festival No. 26 nun als kompaktes Fest vom 6. bis 8. November 2020. Im Moment sieht es so aus, dass der allergrößte Teil unseres geplanten Programms auch im Herbst umgesetzt werden kann.“ Doch dieser Optimismus rechnete nicht mit dem langen Atem der Pandemie. Am 24. September war klar, dass es ein Festival in diesem Jahr nicht geben wird. Den aus der Not geschöpften Ersatz soll jetzt eine Konzertreihe bieten, "Interim - Jazz in E. No. 25a". Drei Vormittagskonzerte unter freiem Himmel, auf dem Innenhof des Paul-Wunderlich-Hauses, bei jedem November- und Dezemberwetter. Eisen und Stein, so hart ist es jetzt gekommen.

Vor einigen Jahren bedauerte ich an dieser Stelle, dass der Jazz nach John Coltranes Platte „Ascension“ von 1966 keine Himmelfahrtsmusik mehr zustande gebracht hat. Vielleicht ist auch das ja ein Beleg, dass diese Musik – gleichwohl sie natürlich starke spirituelle Wurzeln hat und einen „Spirit“ für sich regelmäßig in Anspruch nimmt – inzwischen weit überwiegend keine spirituelle Musik ist. Da kommt gerade recht, dass in diesem Herbst der US-Musiker Sufjan Stevens ein Album namens „Die Himmelfahrt“ (The Ascension) veröffentlichte. Dass die Musik nicht sortenrein ist, tut dabei nichts zur Sache. Entscheidend ist, ob Stevens‘ schmerzhafte Selbsterkenntnis, bis zu den Knien im Modder zu stehen, zur Erlösung beitragen kann. Musste man, wie er, die wahrscheinliche Lebensmitte erst hinter sich lassen, um einzusehen – man hat schlicht und einfach zu viel erwartet? Von allen um sich herum, wahrscheinlich auch von sich selbst? „But now it strikes me far too late again / That I was asking far too much of everyone around me.“ Ein Virus stellt plötzlich alte Gewissheiten in Frage und selbst der Eberswalder Leitsatz des Trompeters Axel Dörner „Es geht um mehr als Musik, es geht darum, wie man lebt“ – geäußert nach einem legendären Jazz in E.-Konzert mit Monks Casino – lässt sich plötzlich in verschiedene Richtungen interpretieren. Noch macht hier die Desillusionierung nicht so lebens-müde wie Sufjan Stevens in seinem neuen Werk: Er begann seine Karriere vor 20 Jahren mit dem Vorhaben, jedem US-Bundesstaat ein hymnisches Album zu widmen. Am Anfang stand der Bundesstaat Michigan. Dort haben gerade vom Spaltpilz infizierte Egoshooter geplant, den Gesellschaftsvertrag aufzukündigen, das Parlament zu stürmen und die Gouverneurin zu entführen. Vielleicht sind ja die Zeiten erst mal vorbei, in denen sich der – wie keine andere Kunst auf Demokratie gründende - Jazz weithin als politikferne Unterhaltungskultur enthalten kann.

Auf dem Innenhof des Paul Wunderlich-Hauses gab es schon einmal Festivalkonzerte, bei Jazz in E. No. 14, Anfang Mai 2008. „Kühler Jazz am Nordtor“ titelte anderntags die Märkische Oderzeitung. Und wirklich: es war klirrend kalt. Diesmal hoffe ich nicht nur auf Kälte, sondern ausgemachtes Mistwetter. Es mag biblisch regnen. Nach dem zurückliegenden Jahr muss man froh sein, dass kein geselliges Festival in der kuschligen Rotunde des Paul-Wunderlich-Hauses eine heile Welt vorgaukelt. Die Welt ist nicht heil, im Großen nicht und nicht im Kleinen. Und während selbst im dissonantesten Jazzstück zum Ende fast immer alle wieder zueinanderfinden, ist das im wahren Leben noch nicht ausgemacht. Vielleicht hilft „Jazz in E.“ dabei als Arche Noah. Und das Mistwetter, einen kühlen Kopf zurück zu erlangen. Ich habe damit gute Erfahrungen.

Im Jahr 2001 war Eberswalde traumatisiert erst vom Verschwinden, später vom Mord an der zwölfjährigen Ulrike aus Finowfurt. Um Wege zu finden, damit umzugehen, erarbeitete ich mit ein paar Schwedter Theaterleute der Uckermärkischen Bühnen das auf einer wahren Begebenheit beruhende Stück „Bartsch. Kindermörder“. Inzwischen war der Ulrike-Mörder überführt und hatte gestanden. Da verbreiteten infame Selbstdarsteller das Gerücht, der Inhaftierte sei ein Bauernopfer politischer Eliten – ein Pädophilenring um den Brandenburger CDU-Chef und Innenminister Jörg Schönbohm habe Ulrike auf dem Gewissen. Aus diesem Erleben rührt meine Urverachtung für jegliche Zwietracht säende Wichtigtuer. Bevor das Bartsch-Stück an einem Novemberabend zur Premiere gelangte, traf sich das Publikum vor dem Theaterhaus, an dessen Fassade die Opfer- und Täterfotos der Mordserie projiziert wurden. Vom Oderbruch her trieben eiskalte Böen den ersten Schneeregen der Saison. Das Frieren kam von innen und außen und tat gut. - Zwei Monate zuvor hatte ich im strömenden Regen vor der Parkbühne in der Berliner Wuhlheide gestanden. Die Trümmer des New Yorker World Trade Centers rauchten noch und ob das Konzert der britischen Band Radiohead zwei Tage nach den Anschlägen stattfinden würde, war bis zuletzt ungewiss. Doch dann kamen sie und versuchten gar nicht erst, Worte des Entsetzens oder Trosts zu finden. Nur rauschender Krach erschien der allgemeinen Gemütsverfassung angemessen. „Idioteque“, mein Lieblingsstück an diesem Abend, wurde von einem gebrochenen elektronischen Rhythmus gepeitscht. Es regnete unaufhörlich, bis zum Schluss, und keine Aktivisten kamen und zogen die Plane weg.

Jazz in E. No. 26 soll nun im kommenden Jahr, am traditionellen Himmelfahrts-Kalenderplatz, open air auf der lieblichen Feenlichtung des Forstbotanischen Gartens stattfinden. Das Motto „Eisen und Stein“ fände dort keine Entsprechung mehr. Ich rechne mit vier Tagen Sonnenschein.

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