Märkischen Oderzeitung, 21. Mai 2004
Avantgarde und Tradition
Das 10. Eberswalder Jazzfestival hat begonnen
An der Pforte der St. Georgs-Kapelle zu Eberswalde steht Atheist
Muszynski und betet: Herr, laß Leute kommen. "Jazz in E." verkünden
die Plakate, "Stress in E." des Machers Stirn. Der 10. Jahrgang des
renommiertesten Brandenburger Jazzfestivals ist bereitet. Vor Tagen
erst hat das städtische Kulturamt die Finanzierung gesichert,
gestern noch war der Künstler-Shuttle nach Berlin gefährdet. Das
Grundkapital des Festivals sind seine ehrenamtlichen Helfer, vor
allem aber Muszynskis untadeliger Szeneruf. Einem Enthusiasten
zuliebe lassen sich erstklassige Musiker schon mal unter Tarif nach
Eberswalde buchen. In Barnims Jazzgemeinde selbst hat der Ruf
längst zu grenzenlosem Urvertrauen geführt. Auf Muszynskis
Geschmack und Auswahl verläßt man sich. Heute hat er den Jazzsänger
Michael Schiefel verpflichtet, von dem die FAZ meint, in seinen
Stimmbändern wohnten magische Kräfte. Daß Schiefel hier keiner
kennt, liegt nicht nur daran, daß die FAZ anderswo mehr Leser
findet. Muszynskis Werben wurde erhört. In der heutigen
Konzerthalle geht es zu wie früher Heilig Abend - kein einziger
Stuhl bleibt frei. Berechenbar ist die Gemeinde allerdings nicht.
Eberswaldes Studenten sind an diesem langen Wochenende nach Hause
fahren; Jazz ist auf dem Campus nicht hip. Und lockt man in der
Brötchenschlange bei Bäcker Wiese, da, wo sich Eberswalde an
Feiertagsvormittagen sozial so gründlich mischt wie nie und
nirgends sonst, mit Freikarten fürs "Dschässkonzert", erntet man
Blicke, als wolle man Semmelmehl verschenken. Jazz in E. ist eine
Nische, keine Massenveranstaltung. Man fremdelt gegenseitig ein
bißchen. Dort, wo Eberswalde wie Klein-Kreuzberg aussieht, findet
sich die Galerie Nocturne und in ihr wurde Ende April zum
Festivalauftakt eine Fotoausstellung eröffnet. Der Berliner
Fotograf Uli Pschewoschny zeigt grandiose Bilder des amerikanischen
Jazzstars Dizzy Gillespie. Zur Vernissage spielte der Brasilianer
Renato Pantera, im Gästebuch findet sich eingangs eine Huldigung
kubanischer Abstammung. Jazz in E. wird von außen längst als
bedeutender erkannt als aus Eberswalder Rathaussicht. Im Festumzug
zur 750-Jahrfeier der Stadt Anfang Juni wird keine Jazzkapelle
mitziehen, obwohl das Festival zur jüngsten Tradition dieser Stadt
gehört und in ihr kulturell so modern ist wie sonst nur noch das
neue Bibliotheksgebäude. In der St. Georgs-Kapelle schaut Schiefel
inzwischen in glänzende Augen. Das anfängliche Staunen über seine
Stimmkunst ist entspanntem Genießen gewichen. Auf der Bühne stehen
außer ihm nur noch Andreas Schmidt am Flügel, Christian Kögel an
der Gitarre und einige elektronische Geräte. Mit diesen und seiner
enorm wandlungsfähigen Stimme zaubert Schiefel gelegentlich
Orchester und Chor hinzu. Es ist wie eine Allegorie, ein Gleichnis
am Anfang des Festivals: aus wenig viel zu machen. Zum Höhepunkt
gerät "Boys don't cry", ein früherer Hit von "The Cure". Schiefel
singt nacheinander verschiedene Vokalisen ins Mikrofon, nimmt sie
auf, spielt sie als Loops wieder ab, mischt und überlagert sie zu
einem filigranen Klangteppich, den er schließlich mit dem
eigentlichen Lied betritt. Es ist hohe Kunst - Schiefel ist
Professor für Jazzgesang an der Musikhochschule Weimar - und hat
doch gleichzeitig eine Leichtigkeit, als wären die Lieder unter der
Dusche entstanden. Vergleiche mit Al Jarreau und Bobby McFerrin
sind angemessen. Udo Muszynski wird heute abend erstmals betend vor
einer Veranstaltungshalle der ehemaligen Landesgartenschau stehen.
Sein angestammtes Domizil im plüschig-morbiden Rialto-Kino mußte
das Festival verlassen; die Auflagen des Bauordnungsamtes waren
nicht zu bezahlen. Der Sonnabend bringt mit Carlos Bica und seiner
Band Azul den internationalen Star des Festivals, mit dem Yuri
Honing Trio zudem eine der erfolgreichsten niederländischen Gruppen
(Beginn 21 Uhr). Zum Abschluß gibt es am Sonntag den traditionellen
Familien-Jazz-Frühschoppen im Weinkontor in der Alten Ofenfabrik,
diesmal mit dem Matthias Broede Chamber Trio (11 Uhr). (Thomas
Melzer)
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