Märkische Oderzeitung / Kultur / 29. Mai 2006
Wagemutig und dünkelfrei - Eberswalder Jazzfestival selbstbewußt
wie nie zuvor Von Thomas Melzer
Vor etlichen Jahren habe der Manager angerufen: Ob er mit John
McLaughlin zusammenspielen wolle? Na klar, rief Helmut "Joe" Sachse
zurück: mein Traum, auch ohne Gage. Selbstwert und Selbstbewußtsein
waren die zentralen Untersuchungsobjekte, zu denen sich am
Wochenende das Seminar "Jazz in der DDR/Jazz in der Provinz" durch
allerlei Anekdotisches immer wieder skalpelierte. Helmut Sachse,
DDR-Gitarrengott, traf also auf John McLaughlin, Welt-Gitarrengott,
erhielt natürlich eine Gage, lieh dem frierenden McLaughlin seine
Jacke und erfuhr aus Meisters Mund höchste Weihe: "Joe Sachse
braucht keine Band. Er macht das auf der Gitarre alles selbst." Am
Vorabend seiner Seminarauskünfte trat Sachse den Beweis bei "Jazz
in E." an. Das Musikgeschäft hat wenig härtere Jobs zu vergeben,
als allein mit Gitarre über Konzertlänge ein Publikum im Gefolge zu
halten. Wie konnte der Mann nur je auf die Idee kommen, neben
McLaughlin für lau zu spielen? Nach Sachse stürmte "Gutbucket" die
Bühne, vier junge, von Selbstzweifeln offenkundig nicht geplagte
New Yorker. Mit ihrem furiosen, hyperventilierenden Großstadtjazz
sind sie gerade dabei, die Musikwelt zu erobern und hatten dabei
auch Eberswalde auf dem Schirm. Manchmal wird der Rang eines
Festivals im Tourplan seiner Künstler deutlich: "Gutbucket" flog
via Tegel aus New York ein, stieg in Eberswalde am nächsten Morgen
in den Intercity nach Amsterdam, um nach dem dortigen Konzert die
Heimreise anzutreten. "Jazz in E." kam in diesem Jahr so
selbstbewußt daher wie nie zuvor. Das Festival hat in seinem 12.
Jahr einen Quantensprung gemacht und dabei zu bemerkenswerter
Gelassenheit gefunden. Keine Angst vor der Jazzpolizei, als zum
Auftakt die "Mighty Three" gar keinen Jazz, sondern Südstaatenrock
spielten, Sänger Doc Wenz gar zu bekunden wagte: "Wir verabscheuen
Jazz geradezu". Als er über Kriegsverbrechen im Irak, das Scheitern
von Bausparlebensplänen, Tod und Verlust sang, bekam "Jazz in E."
erstmals auch inhaltliche Tiefe. Später gab es ein Hörspiel, in dem
es um die kalkulierte Schöpfung eines Popsongs ging ("Top Hit
leicht gemacht - In 50 Minuten an die Spitze der Charts"); auf der
Leinwand war währenddessen die englische Band "The KLF" beim
Verbrennen von einer Million "unmoralisch verdienter" englischer
Pfund zu sehen. Keinerlei Dünkel gegenüber dem Mainstream zeigte
das Festival auch, als "Jazz in E." in einem symbolischen Akt den
neuen Kultur-, Kommerz- und Verwaltungshort der Stadt Eberswalde
eroberte, das nach dem berühmten Stadtsohn benannte
"Paul-Wunderlich-Haus". Wurde Mitte der Woche schon der Richtkranz
unter Saxophonklängen gehißt, verwandelte sich der Rohbau am
Sonnabend in einen großen Jazzclub. Viel Volk wie nie strömte zur
Subkultur und erlebte ein populäres, aber nicht anbiederndes
Programm. Den Initiationsritus eröffnete die quirlige "Top Dog
Brass Band" aus Dresden. Blechgebläse und Trommelklang, Wucht und
Witz brachten das Publikum in nullkommanichts zum Jubeln. Man kann
auch den erfolgreichen Auftakt eines solchen Jazzabends
kalkulieren. Michael Schiefel, den wunderbaren, nur mit Stimme und
Loopmaschine ausgestatteten Jazzsänger danach solo auftreten zu
lassen, zeugte allerdings von erheblichem Wagemut. Als anfangs
technische Probleme auftraten und die Lautstärke im Publikum stieg,
drohte der Abend zu kippen. Doch dann paßte der Sound und Schiefel
erkämpfte sich mit faszinierender Stimmzauberei das Publikum
zurück. Vielfarbig ging es weiter. "The Tiptons", fünf junge Frauen
aus Seattle, kontrastieren vierstimmiges Saxophonspiel mit
knochentrockenem Schlagzeug und beseeltem Gesang. Musikalisch
schöpfen sie aus den Töpfen aller Herren Länder. Den Barnimern
bescherten sie die Erkenntnis, gerade eine musikalische Entdeckung
gemacht zu haben. Eberswaldes Selbstbewußtsein, Brandenburgs
inoffizielle Jazzhauptstadt zu sein, dürfte sich mit diesem
Festival gestärkt haben. Und was fehlt Deutschland zum
Selbstbewußtsein? Ein Helmut "Joe" Sachse, der seine Interpretation
von "Einigkeit und Recht und Freiheit" in die Fußball-WM-Stadien
tragen darf, so wie einst sein Idol Jimi Hendrix in "Star Spangled
Banner" die amerikanische Nationalhymne intoniert hat.
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