jazz in e.

Ein Festival aktueller Musik. Jedes Jahr zu Himmelfahrt. In Eberswalde.

Have a break, have a … ?

Der Festivalblog von Thomas Melzer,
mit Fotos von Torsten Stapel und Grafiken von Matthias Schwarz

Die drei Wünsche der Schlagzeuger - damals und heute

Baronesse Pannonica de Koenigswarter, geborene Rothschild, war Vertraute und Mentorin der New Yorker Jazzszene von den 1950er bis die die 80er Jahre. In ihrer Wohnung lebte Thelonious Monk neun Jahre und nahm Charlie Parker Zuflucht, um zu sterben.

Mit der Polaroid-Kamera fotografierte sie ihre Freunde und stellte allen die gleiche Frage: Wenn du drei Wünsche frei hättest, was würdest du dir wünschen? Zehn Jahre nach Nicas Tod finden ihre Kinder und Enkel das Material und veröffentlichen es erstmals 1988 als Buch in Frankreich (Deutsche Ausgabe „Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche“, Reclam Verlag Stuttgart 2007).

Aus den 300 Antworten habe ich jene von fünf Schlagzeugern ausgewählt und ihnen die drei Wünsche gegenübergestellt, die mir im Mai 2018 fünf Schlagzeuger während Jazz in E. anvertraut haben.

Edgar Bateman (1931 – 2010)

  1. Ständig etwas zu erschaffen, das Schlagzeug zu beherrschen und einen Beitrag zum Schlagzeugspiel und zur Musik zu leisten.
  2. Eine mich liebende und aufrichtige Frau zu haben, die ich meinerseits lieben kann.
  3. Dass jedermann in Ruhe und Frieden lebt und glücklich ist.

Max Andrzejewski (*1986)

  1. Ich möchte mir eine Balance zwischen meiner Musik und allem anderem im Leben bewahren. Meine wahnsinnige Lust auf Musik beruht ja auch darauf, dass alles andere in meinem Leben stimmt. Und letztlich müssen die verschiedenen musikalischen Dinge, die ich mache, ausgewogen sein. Ich genieße es ja sehr, vielseitig zu sein, mit meinen eigenen Bands, Kompositionsaufträgen fürs Theater usw. Aber manchmal gerät da die Balance ins Wanken.
  2. Ich will forschen, nie aufhören zu forschen, und die dazu nötige Inspiration wünsche ich mir.
  3. Gesundheit für meine Liebsten und mich.

Billy Higgins (1936 – 2001)

  1. Das Genie von Thelonious Monk zu besitzen.
  2. Meiner Frau und meinen beiden kleinen Kindern etwas schicken zu können.
  3. Ein Schlagzeug.

Erwin Ditzner (*1960)

  1. Wenn die Leute ein Konzert von mir gehört haben und nach Hause gehen, wäre es schön, wenn etwas bliebe – und sei es ein Grinsen in ihrem Gesicht.
  2. Ich möchte das, was ich gerade mache, bis an mein Lebensende machen und bis dahin Lust darauf verspüren und es immer wieder aufregend finden.
  3. Ich wünsche mir, dass es immer wieder Musiker gibt, die mit mir spielen möchten.

Clifford Jarvis (1941 – 1999)

  1. Ein neues Schlagzeug.
  2. Vierzehntausend Dollar für eine Wohnung.
  3. Ein Auto.

Christian Lillinger (*1984)

  1. Geld
  2. Geld
  3. Geld

(Lacht.) Nein, Quatsch!

  1. Ich wünsche mir, dass die Menschen mehr zu sich finden, sich die dafür nötige Zeit nehmen, auch um sich selber auszuformulieren.
  2. Ich wünsche mir, dass die Kommunikation auf der Welt klarer, transparenter wird.
  3. Ich wünsche mir, so weiter machen zu können, als Musiker, und von der Qualität meiner Musik leben zu können.

Walter Perkins (1932 – 2004)

  1. Glück für meine Brüder. … Für ALLE von ihnen.
  2. Einen Klang aus diesen Trommeln herauszubekommen, wie man ihn noch nie gehört hat.
  3. Mehr Zusammenhalt unter uns Brüdern.

Oliver Steidle (*1975)

  1. Mehr Frieden auf der Welt.
  2. Mehr Empathie auf der Welt.
  3. Dass mehr Jazz passiert auf der Welt.

James Hawthorne „Chief“ Bey (1913 – 2004)

  1. In einer vollkommen freien Welt zu leben, in der die Menschen nicht ihr kreatives Vermögen und ihre Gefühle einbüßen und ihre Achtung vor den Mitmenschen Tag für Tag zunimmt… und dass das, was am Ende bei all ihren Sorgen, Mühen und Nöten herauskommt, jedem von ihnen zum Wohl gereicht… und dieses Positive sich selbst perpetuiert wie eine immergrüne Pflanze…
  2. Dass die Menschen immer das in Ehren halten, an das SIE glauben, und das, was sie glauben, in einem solchen Grad LEBEN, dass es in jeder ihrer Handlungen sichtbar wird. ... und dass sie es nicht der Welt predigen müssen, was sie sind.
  3. Mein dritter und letzter Wunsch ist, … dass es keinen Hunger mehr gibt, … ein bisschen Schmerz, … ein bisschen Leiden, … gerade genug, damit man sich selbst versteht …, so dass ich … als eines von Gottes Geschöpfen … jedes Mal, wenn ich etwas darbiete ..., es für IHN tue.... Und dass ich immer und immer wieder etwas schaffe, ohne mich zu wiederholen … und wenn ich für Tänzer spiele, damit sie zum Rhythmus meiner Trommeln tanzen, dass es dann immer eine Kommunikation gibt…

Jim Black (*1967)

Jim Black spielt mit seiner Band Malamute am ersten Festivalabend. Das verschafft ihm ein Alibi, auf mein Ansinnen nicht eingehen zu müssen. Vor dem Konzert simuliert er innere Einkehr, nach dem Konzert Erschlaffung. Doch ich muss nicht drängeln, weiß ich doch Jim Black als Gast während des gesamten Festivals. Am zweiten Abend lässt er mich erneut abblitzen. Vorwand diesmal: Ich habe ihn in meinem Blog mit Bilbo Beutlin verglichen. (Wer hat ihm das übersetzt??) Jetzt tut er beleidigt. Na wenigstens nicht Frodo, sagt er, das wäre schlimmer gewesen. Tag drei: Kein Jim Black zu sehen. Er erscheint nach dem Konzert auf der Bühne und spielt Gitarre nur für sich, während ich im Late Night Jazz Studio sitze und die Fragen von Ulf Drechsel beantworte. Nach der Sendung ist Jim Black verschwunden. Vierter und letzter Abend: Jim Black kommt auf mich zu und sagt, er habe über seine drei größten Wünsche nachgedacht.

  1. Einer meiner größten Wünsche war schon immer, es zu erleben, dass die Ideen des indischen Philosophen J. Krishnamurti wahr werden. Alle seine Bücher stellen mehr oder weniger die gleiche Frage: Ist es möglich, ein Leben ohne Angst zu führen, und wenn ja wie? Das ist sehr einfach zu fragen, aber sehr, sehr, sehr schwer zu beantworten. Wenn du in der Lage bist, diese Frage positiv zu beantworten – ja, es ist möglich – würde es alles klären. Denn fast alles, was im Leben falsch läuft, beruht auf Ängsten. Ich fürchte, auch er hat die Antwort nicht gefunden. Wenn es überhaupt eine Antwort gibt. Vielleicht hat sich der Dalai Lama am ehesten der Antwort genähert, zumal einer die auch praktikabel ist. Er hat 2001 in New York im Central Park darüber gesprochen. Und seine Antwort ist mein größter Wunsch. The one thing I want is for you to be kind to each other. To be kind reduces fear. Freundlich zu sein reduziert Angst. Und das ist möglich, weltweit. Aber vielleicht ist das ja kein Wunsch, sondern ein Traum.
  2. Mein zweiter Wunsch ist die ökonomische Gleichwertigkeit aller Menschen. Es zirkuliert genug Geld in der Welt, um wirklich jeden Menschen aus seinen wirtschaftlichen Problemen herauszuholen. Klar, wenn du ein bisschen mehr Geld brauchst, arbeitest du etwas mehr und bekommst ein bisschen mehr raus. Aber es kann nicht bleiben, wie es ist. That’s never‘ve been a nobel arrangement.
  3. Ich will selber bestimmen, wann ich sterbe. Wenn die Dinge gut laufen, will ich natürlich nicht, dass die Party ein Ende nimmt. Aber die ewige Jugend gibt es nicht und sie macht auch keinen Sinn. Es ist wichtig zu sterben, wenn man alt ist. Das hält die Dinge am Laufen. Aber ich will selber darüber bestimmen, wenn es soweit ist.

Durchatmen.

Jim, ich glaube, es war es wert, vier Abende lang auf deine Wünsche zu warten.

Ja, sagt er, am ersten hätte ich wahrscheinlich nur sagen können, ich wünsche mir ein nettes Abendessen. Und mein Bett.

Und einen Bus voller Girls, ergänze ich.

Oh ja, lacht Jim, aber wenn du dir meinen ersten Wunsch erfüllst und nett bist, dann klappt es auch mit dem Bus voller Girls.

Was für ein wunderbarer Typ.

Fünfte und letzte Arschbombe: … have a Kitkat

Am zweiten Festivalabend wurde Jazzaktivist Kirchner abgemahnt. Und das kam so: Till Kirchner war an diesem Abend für die musikalische Pausenversorgung der Besucher zuständig. Im Foyer des Paul-Wunderlich-Hauses erklang plötzlich Pink Floyd. Der Vorsitzende des Aktivistenvereins, Lars Fischer, eilte herbei. "Noch ist das hier ein Jazzfestival", soll er gesagt haben. Beim nächsten Festival wird Aktivist Kirchner wohl wieder Stühle schleppen müssen.

Das bislang für die Programmgestaltung zuständige Vereinsmitglied Muszynski wird ihm dabei absehbar Gesellschaft leisten. Wenn es Glück hat - und nicht demnächst morgens um fünf die Jazzpolizei bei ihm vor der Tür steht. Was ist am letzten Festivalabend passiert?
Der letzte Break dieses Festivals war sein heftigster. Es war der Bruch eines Schokoriegels. Have a Break, have a Kitkat. Nicht etwa im Foyer und von Platte, sondern auf der Festivalbühne und live - wurde lupenreiner Pop gespielt.

Im gestrigen Blogeintrag über Steidle und Lillinger war von Beziehungspflege die Rede. Ein Aspekt kam dabei nicht zur Sprache: Großzügigkeit. In seiner exzellenten Beziehung zum Eberswalder Publikum spendierte Udo Muszynski diesem zum Abschluss des Festivals einen Abend in der Komfortzone. Nach drei Abenden, in denen das musikalische Geschehen oft genug veranlasste, die Luft anzuhalten, erlaubte es die Musik nun, den Atem frei fließen zulassen. Wie gering das Publikum schon vorab die Risiken dieses Abends einschätzte, konnte man daran ablesen, dass erstmals einige Kinder mitgebracht wurden. Tatsächlich wurde das Konzert des Duos "Ätna" regelrecht abgefeiert. Als Sängerin Inez laut nachdachte, welche Zugabe sie spielen solle, rief Volkes Stimme lauthals "beide!" Nach dem Konzert war reichlich Begeisterung zu vernehmen.

Gleichwohl halte ich die Auswahl dieser Band für einen Fehlgriff.
Zwei Gründe:
Ätna Drei Festivalabende lang stand nicht eine einzige Frau auf der Bühne. Das ist nicht etwa Ausdruck ausgeprägter Männerbündelei der Eberswalder Aktivisten, sondern des generellen Genderproblems im Jazz. Dass nun aber die erste Frau, die auf diesem Festival zu erleben war, keinen Jazz, sondern - zugegeben geschmackvollen - Pop singt und spielt, setzt den Anschein, dass Musik von der Sperrigkeit und Komplexität der vorangegangenen Darbietungen nur von Männern geliefert wird. Jungs steckt man in blaue Strampler, später spielen sie mit Autos und noch später Jazz. Mädchen werden in rosa Stramplern und mit Puppen groß und machen später Pop. Das stimmt einfach nicht mehr. Und ein Festival mit einem hohen künstlerischen Anspruch, wie Jazz in E. ihn hat, sollte dies widerspiegeln.
Zweites Argument: Lars Fischer hat Recht - dies ist ein Jazzfestival. Nicht nur, weil es den Jazz im Namen trägt, mehr noch wegen seiner identitätsstiftenden Geschichte, seiner absolut nichtkommerziellen Natur und der musikalischen DNA seiner Macher. Nun gibt es für das Genre Jazz zwar tatsächlich tausend verschiedene Definitionen und schwammige Abgrenzungen. Es gibt aber dennoch so etwas wie eine landläufige Kernauffassung davon, was Jazz ist und was nicht. Zwar spricht Jim Black zu Recht davon, dass sich der Jazz von heute aus vielen Töpfen bediene, er spricht aber bewußt nicht davon, dass der Jazz als Gattung darüber zur Unkenntlichkeit verkommen sei. Und in diesem Sinne möchte ich mich als Festivalbesucher wenigstens im weitesten Sinne darauf verlassen können, dass ich das erhalte, was draufsteht: Jazz.
Die erwähnte Großzügigkeit ist insofern eine ambivalente - und unnötige. Es ist wie mit der ersten und zweiten Million auf dem Konto: Wenn ein Konzert ausverkauft ist, wie am Sonnabend, ist es egal, ob ich fünf oder fünfzig Leute ohne Karten nach Hause schicken muss. Mit anderen Worten: Jazz in E. muss nicht entgegenkommend sein. Paradox erscheint zudem, dass am Vormittag, beim öffentlichen Guten-Morgen-Konzert auf dem Kirchhang, das ja nicht zuletzt auch ein Schnupperangebot für jene ist, die immer noch Schwellenangst haben, von John Schröder & Co. über 90 Minuten unvergleichlich stärkerer Tobak geboten wurde als am Abend von "Ätna".

5k hd Nein, Udo Muszynski droht keine Verhaftung. Nach dem "Ätna"-Konzert hob Lars Fischer kapitulierend die Abmahnung von Till Kirchner auf und rief den Aktivisten sarkastisch zu: "Ihr könnt hier künftig spielen was ihr wollt." Es ist sehr zu hoffen, sie nehmen ihn nicht beim Wort.

Im Vorjahr hatte ich an dieser Stelle in einem selbstsüchtig-übergriffigen Ausbruch den Programmverantwortlichen dieses Festivals bedrängt, den Wiener Musiker Klemens Lendl zu allen künftigen Festivals mit einer Wildcard auszustatten. Und da ich wußte, dass Udo M. niemals eine Band zweimal einlädt, gab ich Klemens Lendl den Rat, doch einfach jährlich den Bandnamen zu wechseln.
Als ich nun erstmals las, dass in diesem Jahr eine Band namens "5K HD" aus Wien zum Festival eingeladen wurde, dachte ich ernsthaft, Klemens Lendl habe meinen Tipp aufgegriffen. Ein so absurder Bandname würde bestens zu ihm passen. Tatsächlich jedoch ist der Name tiefernst gemeint und gehört zu einer jungen Wiener Band, die sich aus den vier Musikern der Jazzkombo "Kompost 3" und der Sängerin Mira Lu Kovacs zusammensetzt und den zweiten Teil des Festivalabends bestritt. Da waren wir dann zurück bei Jazz in E. Sicher nicht im Kernland, sondern den an den Pop grenzenden Außenbezirken, aber es gab Spannungen und Brüche, 5k hd es wurde experimentiert, hier und da vielleicht auch ein bisschen improvisiert, und wenn es dennoch Popmusik war, dann jedenfalls solche mit den Mitteln des Jazz. Den Unterschied zwischen "Ätna" und "5K HD" offenbarte ausgerechnet ein Showelement, das naturgemäß zum Offenbaren nicht bestimmt ist (und das ich über viele Jahre auf der Jazz in E.-Bühne wirklich nicht vermisst habe): Nebel. Bei "Ätna" war er Dekor, genretypische Suggestion von Dramatik. Bei "5K HD" dagegen erschien es nicht überraschend, dass plötzlich Nebel aufzog, als Mira Lu Kovacs sang "This is not a love song", die Stimme tonlos, Martin Eberles Trompete kalt echote, jede Hoffnung nehmend, es könnte doch anders sein, und das Publikum auch ohne Nebel bereits fror.

Am Ende wieder ein erstes bruchstückhaftes Stimmungsbild. Meine Befürchtung vom Eröffnungsabend, dass mit dem Konzert von Jim Black und Malamute mein Festivalhöhepunkt schon verklungen sein könnte, hat sich letztlich bestätigt. Bei vielen anderen Besuchern nicht. In meiner abschließenden Umfrage hörte ich häufig die Namen Pranke, Ditzner und Lömsch, Steidle und Lillinger. Auch der letzte Abend fand - die Wahrheitstreue des Chronisten herausfordernd - durchaus Erwähnung. Einige Leute waren ob des reichen Angebotes, wechselnder Kollaborationen oder ambitiöser Bandnamen aber auch verwirrt und zur Auskunft außerstande:
"Und, welches Konzert wird Dir in Erinnerung bleiben?“
„Natürlich das von … Mensch, wie heißen die gleich noch mal? Scheiße, ich habe den Namen vergessen. Das war toll!“

Vierte Arschbombe: Szenen einer Ehe

Kirche Eine Schlagzeuger-Hochzeit hatte Udo Muszynski angekündigt: Mit Oliver Steidle und Christian Lillinger sollen zwei Trommelavantgardisten in Eberswalde getraut werden. Bevor die Ehe am Abend vollzogen wird, gehe ich mit den beiden am Nachmittag in die Kirche. Von oben will ich ihnen Eberswalde zeigen und in angemessener Höhe die Gründe fürs Ja-Wort erkunden. Kirchenvorstand Neumann schließt uns Maria Magdalenen auf. Es gibt viel zu erzählen: Die Orgel, der Altar, der im 30-jährigen Krieg aufgebahrte Schwedenkönig. Nun aber ab in den Turm, sage ich. Die Glocken, die brütenden Turmfalken, die Mobilfunksender. Wir kommen nicht richtig voran. Endlich auf dem Balkon: Das Urstromtal, die Synagoge, das Bombardement 1945, die Ökobilanz des Paul-Wunderlich-Hauses. Man sollte doch immer mal aus Berlin rausfahren, sagt Christian Lillinger, vorn an der Brüstung. Was unterscheidet so eine Schlagzeugerbeziehung von einer Ehe zwischen Mann und Frau, frage ich. Zu beidem wären beide empirisch auskunftsfähig, aber ach: Oli Steidle sagt immer weniger, fern der Brüstung. Die Höhe. Also wieder runter.

Was man in beiden Fällen braucht, ist Vertrauen, eröffnet Lillinger. Und das habe ich. Wenn ich leise spiele und Oli macht ganz laut, dann bin ich cool damit und nicht angepisst. Es ist wichtig, wie man miteinander umgeht. Früher wurde gebattelt. Offiziell hat man miteinander gespielt, aber eigentlich ging es darum, mehr Technik, mehr Show zu zeigen und dann als heimlicher Gewinner von der Bühne zu gehen. Das ist bei uns ganz anders. Schon allein weil ich es mag, mich selber zu shreddern.

Lillinger Was identisch ist mit der Ehe, sagt Steidle, ist die Akzeptanz. Lilly ist ein komplett anderer Typ als ich. Aber das macht den Reiz aus. Und funktionieren tut es eben nur, weil wir uns in unserer Unterschiedlichkeit akzeptieren. Allerdings gibt es in einer Ehe auch viel mehr Reibungspunkte, wirft Lillinger ein. Abwasch und so. Genau, sagt Steidle. Wir teilen eine Leidenschaft miteinander. Und mehr nicht.

Es stellt sich heraus, dass die Trommlerehe heute nicht originär geschlossen, sondern lediglich erneuert wird. Die beiden haben sich zuletzt vor einem Jahr aufeinander eingelassen. Würdest du denn auf der Bühne an Olis Spiel erkennen, wie er drauf ist, frage ich Lillinger. Nein, sagt er, woran sollte ich? Na vielleicht, weil er besonders hart zuschlägt. Daraus zu folgern, er ist heute schlecht drauf – nein, das wäre mir zu plump, sagt Lillinger. Vielleicht ist er ja voller Liebe und will aus lauter Liebe dieses Becken kaputt machen. Liebe setzt ja auch viel Energie frei. Natürlich äußert sich unser Befinden in unserem Spiel. Aber nie linear.

Wir machen schon ziemlich viel Musik, sagt Steidle, es dreht sich eigentlich alles um Musik bei uns. Im Laufe der Zeit entwickelt man ein Gespür füreinander. Und daraus entstehen dann die tollen Momente, die man nicht planen kann. Man muss nur den Mut haben, auf sie zu warten. Ja, bestätigt Lillinger, dieses safe spielen und nicht aus der Komfortzone rauskommen, das ist nicht unser Ding. Ein bisschen Risiko tut auch dem Publikum gut und diesem Festival. Wir können nicht garantieren, dass es allen mundet.

Steidle Lillinger Es geht zum Soundcheck, wir verlieren uns vorübergehend aus den Augen. Kurz vor acht, der Saal ist schon voll, gehe ich nach oben in den Rückzugsraum, ein Konzertbier holen. Von einer Wand, wohl nicht zufällig gegenüber dem Rechtsamt, springt mich ein Zitat von Paul Wunderlich an: „Alles was nach Zufall aussieht, ist mir ein Dorn im Auge.“ Auf dem Weg zum Kühlschrank frage ich Steidle und Lillinger, beide noch entspannt beim Rotwein, ob sie damit etwas anfangen können. Na da habe ich etwas angerichtet! Lodernde Empörung. Der Zufall als kreative Chance. Als Moment, auf den man sich durch Akkumulation von Wissen, Können und Konzepten vorbereiten müsse. Der Zufall als allgegenwärtiges Prinzip, das sich nicht wegregulieren ließe.

Unten im Saal, die Uhr hat acht geschlagen, sagt Udo Muszynski derweil die Drummerhochzeit von Steidle und Lillinger an. Allerdings hat er das Brautpaar zuvor nicht abgeholt. Das ist ihm noch nie passiert. Keiner da.

Oben - wir sind bei Fukushima, den Medien, der Machtfrage, der Wachstumsideologie und der Volksbildung; am Nachbartisch, beim Marek Pospieszalski Quartett, längst alle Gespräche verstummt – fragt plötzlich Elias Stameseder: Sagt mal, könnte es sein, dass das da in der Ferne euer Applaus ist?

Zehn nach acht. Mist, sagt Lillinger, und ich muss auch noch pullern. Die beiden hasten nach unten. Oli, warte auf mich, fang nicht ohne mich an, ruft Lillinger und biegt ab. Udo Muszynski gewährt Gnade und sagt noch einmal an, Wort für Wort. Bombenstimmung.

Unmöglich danach, das Konzert nur noch als Musik, als Sound zu erleben, so wie die beiden es wollen. Die Beziehungsebene ist nicht mehr rauszurechnen. Abtasten, Aufeinanderzubewegen, Kommunizieren. Gemeinsames Agieren. Dann irgendwie jeder für sich; Steidle geht ins Büro und Lillinger macht den Abwasch. Oder umgekehrt. Zurückfinden, gemeinsames Agieren. Abkoppeln. Steidle guckt Fußball und Lillinger geht Shoppen, mit Steidles Kreditkarte. Umgekehrt? Eher nicht.

Marek Die Nichtkomfortzone wurde von drei Besuchern vorzeitig verlassen. Das Festival hat Gewährleistungspflichten offenbar nicht nötig. Risiko mundet hier allenthalben. Was am Nachmittag in der Kirche begann, endet am Abend mit der Zigarette danach, draußen vor der Tür, zwischen Wunderlich und Rathaus. Entspannte Laune auch hier. Darüber verpassen wir das Konzert von Marek Pospieszalski, der Frank Sinatra liebt und dessen Songs mit seinem Quartett eine neue Deutung gibt.

Später kommt John Schröder hinzu, er wird anderntags bei Guten Morgen Eberswalde auf dem Kirchhang spielen. Am Abend, verkündet er jetzt, werden Aki Takase und Alexander von Schlippenbach in einem Berliner Restaurant ihren 150. Geburtstag feiern.

Jazz in E. gratuliert herzlich!

Märkische Oderzeitung Eberswalde
Oli Steidle meist vor dem gegnerischen Tor
RBB sendete live aus Eberswalde von Jazz in E.

Mit Torhütern war Deutschland immer gut versorgt: Mayer, Croy, Kahn, Neuer etc. pp. Bei den Jazzschlagzeugern ist die Lage neuerdings genauso komfortabel: Schäfer, Lillinger, Steidle, Andrzejewski, Kappenstein usw. Einige der besten von ihnen spielen in diesem Jahr in Eberswalde bei Jazz in E. Bei den Torhütern ist es dazu in hundert Jahren nicht gekommen. Donnerstagabend zum Beispiel musizierten im Paul-Wunderlich-Haus Oliver Steidle & the Killing Popes. Der Bandname ist ziemlich unfromm und soll deshalb hier nicht übersetzt werden. Über Oli Steidle kann ich berichten, dass ich nicht weiß, Popes ob ihm in seinem Spiel ein Fehler unterlaufen ist. Und wenn, wäre es auch egal. Es wäre, glaube ich, keinem aufgefallen. Das unterscheidet Steidle zum Beispiel von Sven Ulreich, dem Torhüter von Bayern München. Der hat jüngst im Spiel gegen Real Madrid einen kapitalen Fehler gemacht. Danach war für halb Deutschland der Abend im Eimer. Im Jazz kann das nicht passieren. Da ist die Freiheit, Fehler machen zu dürfen, quasi folgenlos. Das ist kein ganz unerhebliches Argument für einen gelungenen Abend.

Den gestrigen übertrug die ARD, in Gestalt des RBB-Kulturradio, live aus dem Kessel des Paul-Wunderlich-Hauses. Reporter war Ulf Drechsel. Aus lokalpatriotischer Sicht sollte vermerkt werden, dass der RBB auf eine Konferenzschaltung verzichtete, obwohl in Berlin zeitgleich das X-Jazz-Festival stattfindet. Nach 95 Jahren wurde damit wieder ein Konzert aus Eberswalde im Radio in Echtzeit übertragen. Von der Versuchsfunkstelle Eberswalde, am Finowkanal gelegen, war im Jahr 1923 erstmals in Deutschland drahtlos das Konzert eines Orchesters ausgestrahlt worden.

Popes Im Tor saß gestern Abend also Oli „Kahn“ Steidle. (Das Schlagzeug wurde früher gelegentlich als „Schießbude“ bezeichnet. Das würde man heute wohl nicht mehr sagen.) In der Formation 1:2:2 spielten vor ihm im Mittelfeld Frank Möbus an der Gitarre und Phil Donkins am Bass, im Sturm Kit Downes und Dan Nicholls an den Tasten. Die Taktik, sofern es überhaupt eine gab, war offensiv ausgerichtet; die Defensive wurde meist vernachlässigt. Unnötige Querpässe waren selten, die Ballkontakte kurz, meist wurde gleich wieder abgegeben. Gelegentlich wirkte es so, als seien fünf Bälle im Spiel. Die Offensivaktionen wirkten häufig überfallartig, es gab jede Menge Hackentricks. Bela Réthy hätte ein paar Mal gesagt, „die spielen uns schwindelig“. Selbst der Torhüter/Schlagzeuger /Spielertrainer dribbelte oft im gegnerischen Strafraum umher.

Popes Gegner? Das ist im Jazz ein quasi unsichtbarer Verteidigungsriegel, ein statischer Block, der umspielt werden muss und hinter dem die Musik sich fließend und frei aus sich heraus entfalten kann. Den Killing Popes ist das etwa ab der 12. Minute ihres Spiels auf sehr lebendige Weise gelungen; die zahlreichen Freunde gehobener Spielkunst in der Südkurve hatten ihre helle Freude daran. Leider brachte es das Format der Sendung Late Night Jazz mit sich, dass nur eine Halbzeit gespielt wurde.

Auffällig war Im Übrigen das Fehlen jeglicher Tattoos an den sichtbaren Körperteilen der Spieler. Aber auch sonst war die Mannschaft irgendwie nicht von dieser Welt.

Heute ist der nächste und letzte Spieltag bei Jazz in E., Anstoß 20.00 Uhr. Tickets sind an der Abendkasse noch erhältlich. Es spielen die deutsche Mannschaft ÄTNA und das Team 5K HD aus Österreich, beide übrigens mit Frauen in der Spitze. Wenn Sie noch nie beim Jazz waren, lassen Sie sich nicht abschrecken – viel anders als beim Fußball ist es nicht.

Dritte Arschbombe: Schlüpper uff’m Kopp

23.56 Uhr. Der zweite Abend bei Jazz in E. ist vor einer Stunde zu Ende gegangen. Oli Steidle & The Killing Popes spielten in Eberswalde und das RBB-Kulturradio übertrug die Veranstaltung in alle Welt. Das gab es hier zuletzt vor 95 Jahren: Von der Versuchsfunkstelle Eberswalde, am nahen Finowkanal gelegen, wurde im Jahr 1923 erstmals drahtlos und live das Konzert eines Orchesters ausgestrahlt. Die Geburtsstätte des deutschen Unterhaltungsfunks liegt in Eberswalde. Man kann allerdings wohl ohne Zaudern sagen: Für die Musik von Oli Steidle & The Killing Popes wäre die Zeit damals noch nicht reif gewesen, nicht einmal in Eberswalde.

Studio Nach dem Konzert verplauderten Udo Muszynski und ich bei Ulf Drechsel die zweite Stunde Late Night Jazz im temporären Eberswalder Studio; kurz kamen auch Oli Steidle und Frank Möbus vorbei. Dass der heutige Blogeintrag entfallen muss, stand indes schon vorher fest. Anruf der Märkischen Oderzeitung, lokaler Medienpartner des Festivals: Der Jazzredakteur sei irgendwie verschwunden, Herrentag und so, ob ich nicht, hundert Zeilen… - bis Freitagmittag zwölf Uhr? Bezahlte Arbeit geht immer vor. Natürlich habe ich zugesagt.

02.23 Uhr. Der Text für die MOZ ist fertig, ein paar Gedanken sind übrig geblieben, insbesondere ein persönliches Bekenntnis: Das Konzert des Ditzner Lömsch Duos, mit dem der Abend begann, hat mich sehr berührt. Wir sind hier alle etwas berlinverdorben, von diesen jungen coolen Musikern, die aus der ganzen Welt in die deutsche Hauptstadt kommen, alles zu können scheinen und keine Zweifel haben. Ditzner Lömsch Und dann erscheinen zwei alte Haudegen aus Mannheim, Pioniere der freien Musik, siezen sich auf der Bühne und reden das Publikum, im weichen schwäbischen Zungenschlag, mit „Meine Damen und Herren!“ an. Er habe eines der letzten Konzerte von Ornette Colemann erlebt, erzählt Lömsch Lehmanns, ihm seien Tränen der Rührung in die Augen geschwappt. Das übernächste Stück widmet er seiner Tochter. Wann bitteschön, haben Sie es zuletzt erlebt, dass ein Jazzmusiker ein Stück seinem Kind widmete? In Berlin wäre das uncool im Endstadium. Ditzner und Lömsch spielen Colemann, Parker, Davis, Hendrix und Ditzner Lömscheigenes, und sie spielen es sehr warm, fast zärtlich, irgendwie melancholisch, und stets einander zugewandt. Und nicht zuletzt haben sie Humor, dessen Abwesenheit beim Jazz ich im letztjährigen Blog beklagte: Die Jimi Hendrix-Nummer begleitet Erwin Ditzner perkussiv auf drei quietschenden, namentlich vorgestellten Rockschweinen.

Kennen Sie Mannheim? Die gitterförmigen Straßen dort tragen keine Namen, sondern sind nach einem System aus Buchstaben und Zahlen sortiert. Das oberste Verwaltungsgericht Baden-Württembergs sorgt von Mannheim aus für Ordnung im Land. Und die beiden machen von hier aus eine Musik, die ganz sicher nicht nach Buchstaben und Zahlen strukturiert ist und deren Ordnung sich nicht immer gleich erschließt. Und sie tragen stoisch einen Kopfschmuck, der in Mannheim ganz gewiss auch heute noch als bürgerlicher Ungehorsam gedeutet wird. Chapeau! Oder wie der Berliner sagt: Schlüpper uff’m Kopp.

3.10 Uhr. Kurz vor dem Einschlafen: Nochmal aufgestanden und den Rechner hochgefahren. Aus dem Text für die Märkische Oderzeitung das Wort Arschbombe gelöscht.

Zweite Arschbombe: Himmelfahrtskommandos

Fast ein Vierteljahrhundert schon fallen in der Eberswalder Jazzgemeinde die höchsten Feiertage auf Himmelfahrt. Und das, obwohl das Kirchenjahr im Mai kaum spezifisches Liedgut zu bieten hat. Vor einem halben Jahrhundert, 1966, veröffentlichte John Coltrane mit „Ascension“ (Himmelfahrt) einen Klassiker des Free Jazz. Seitdem ist quasi nichts dazugekommen. Im Dezember dagegen, zum Jesus-Geburtstag, gibt es bei Dussmann immer neuen Christmas-Jazz zuhauf. Ostern, zur Kreuzigung, reduziert sich das Angebot bereits: Ella Fitzgerald & Louis Armstrong mit „I’m putting all my eggs in one basket“. Vor Himmelfahrt bat der britische Guardian seine Leser einst, eine Liste mit Songs zum Fest zusammenzutragen (https://www.theguardian.com/music/musicblog/2013/feb/14/readers-recommend-songs-ascension). Auf den vorderen Positionen nur Pop und Rock. Die erste Jazznummer auf Platz 20: „Ascension“ von Avishai Cohen. Ausgerechnet. Die Zahl der Konzerte, die ich nach ein paar Stücken als Irrtum verbuchte und vorzeitig verließ, lässt sich an den Fingern einer Hand abzählen. Bereits den Daumen besetzt Avishai Cohen.

BlackJim, fällt dir noch ein Himmelfahrtssong ein? Auch Jim Black muss passen. Der amerikanische Schlagzeuger ist ohnehin eher ein Herrentags- als ein Himmelfahrtstyp. Auf seiner Facebook-Seite warb er gestern unter seinen 4543 Followern: „Berlin, get on that RB24 to Eberswalde today and ride a whole 40 minutes to hang and party with Malamute and Pranke tonight.“ Pranke und Malamute sind jene Bands, die das 24. Festival Jazz in E. gestern Abend eröffneten. Und weiter: “Then let’s bike along the canal to Poland and go lake swimming tomorrow.” Am Ende seiner Malamute-Europatour entspannt Jim Black noch ein paar Tage beim Festival und an den Barnimer Seen. Damit macht erneut ein Musiker deutlich, welch touristisches Potential in Jazz in E. steckt. Gezielt beworben wird das bislang nicht. Die im Vorjahr geschaffene Plattform „Jazz Across Europe“ (www.jazzacrosseurope) könnte hierfür ein geeignetes Instrument sein. Sie zielt auf die Vernetzung internationaler Jazzfestivals und ihrer Besucher. Die Bewerbung der Festivals ist mit touristischen Anregungen und Angeboten verbunden, um Jazzfestivals als Reiseziele zu etablieren. Der Freundin seines österreichischen Pianisten Elias Stemeseder erklärte Jim Black gestern fasziniert das Prinzip des Schiffshebewerkes Niederfinow. Einen besseren Werbeträger als ihn kann die Eberswalder Jazzlandschaft kaum bekommen.

PrankeDen Konzertabend eröffnete ein deutsch-isländisches Projekt, das mit seiner Eigenwerbung diesem Blog kaum behilflich ist, aus seiner analen Phase herauszukommen: „The new Rock Duo PRANKE will kick and touch your ass.“ Kaum hat er hinter seinem Schlagzeug Platz genommen, bekennt Max Andrzejewski vorsorglich noch einmal: „Wir haben uns eingeschlichen. Wir sind eine Rockband, die auf einem Jazzfestival spielt.“ – „Stimmt nicht“, wird Jim Black später sagen: „Diese Grenzen und Abtrennungen gibt es nicht mehr.“

Black Ich frage Black, der in Boston am Berklee College of Music studiert hat, nach seiner Meinung zu „Whiplash“. Der amerikanische Film zeigt die Ausbildung von Jazzstudenten am (fiktiven) Shaffer Conservatory in New York City, und zwar in einer Weise, wie sich unsereins in den 90er Jahren das Schleifen rumänischer Turnerinnen vorgestellt hat. Der Filmheld, ein ehrgeiziger Schlagzeug-Student, bekommt zu hören, dass in einer Rockband enden werde, wessen Talent für den Jazz nicht reiche. „Das ist rassistisch. Das ist arrogant. Diese Unterscheidung in höherwertige und niedere Kunst, das ist Bullshit“, schimpft Jim Black. „Die jungen Leute heute lachen darüber. Sie kennen solche Vorurteile und Berührungsängste nicht. Sie bedienen sich überall. Guck dir die Musiker auf diesem Festival an. Sie bedienen sich überall!“ 2018: Einhundert Jahre Schlagzeug und zweihundert Jahre Marx. Geht das zusammen? Offenbar. Schlagzeuger aller Sparten, vereinigt euch!

Max PRANKE beginnt mit dem programmatischen Stück „Let’s go!“ Der Bandname erweist sich als nicht irreführend – hier wird zugepackt. Höllenmusik, gelegentlich mit himmlisch-hymnischen Einsprengseln. Potentiell stadiontauglich, noch aber sich im kleinen Club ausprobierend. Die künftigen europäischen White Stripes, nicht nur wegen der Besetzung Schlagzeug/Gitarre. Im Herbst 2018 soll auf dem „Staatsakt“-Label ihr erstes Album erscheinen. 2019 sehe ich sie als Halbzeitpausen-Act beim DFB-Pokalfinale.

Malamute Umbaupause. Danach spielen Jim Black und seine aktuelle Band Malamute. Himmlische Musik, gelegentlich mit höllischen Einsprengseln. Jim Black trommelt wie der Leibhaftige, trocken, hart, erbarmungslos. Am Nachmittag, beim Soundcheck, hatte ich eine Erscheinung: Bilbo Beutlin saß am Schlagzeug, der berühmteste aller Hobbits aus dem Auenland. ...ein bisschen kurzbeinig und in der Mitte rundlich. Ein rundes biederes Gesicht, die Ohren nur ein klein wenig spitz und elbisch, das Haar kurz und kraus, hat J.R.R. Tolkien ihn beschrieben. So wie sein literarisch/filmisches Ebenbild ist Jim Black auf einer ausgedehnten Reise, auf die er uns für die Dauer eines Konzertes nun mitnimmt. Den Wind, der uns dabei um die Ohren stürmt, nennt man in der Musik wohl Groove. Blacks Richtungssicherheit stammt auch aus der Mitwirkung an mehr als 100 Alben. Um die rhythmischen Akzente des Reiseleiters kreisen die elegisch-expressiven Saxophonschwaden von Oskar Gudjonnson. Die knackigen Basssignale von Chris Tordini. Die Keyboardschlieren von Elias Stemeseder, mal elektronisch knarzend, mal bachesk aufbrausend. Ein von Minute zu Minute mehr berauschender Soundtrack für das eigene Kopfkino. Dann ist die Himmelfahrt plötzlich vorbei. Auch die Europatournee von Malamute ist damit zu Ende. Wäre es anders, ich würde der Band ab morgen hinterher reisen wie ein Fan, der sein Herz verloren hat.

Erste Arschbombe: Nackig in die Pfütze

Kurz vor Weihnachten 2017 wurde der E-Jazz-Account von Udo Muszynski gehackt.

Bestürzt fragte man sich: Qui bono; wer macht denn so was? Die Russen schon wieder? Die Finnen etwa? (Kalle Kalima erneut nicht bei Jazz in E. dabei…) Hat Cambridge Analytica im Hintergrund am Festivalprogramm mitgeschrieben?

Jazz ist eine gelegentlich verwirrende Kunst, ein (nur scheinbar zufälliges) Zusammentreffen von Auf- und Überfälligem, Vor- und Rückfällen, Ge- und Ungefälligem, latenten oder unter Bewährung spielenden Straffälligen. Synkopen, 7/8-Rhythmen, großkarierte Nylonanzüge. Spiegelbrillen, Geheimratsecken. Vegane Trommelfelle. Da wirst du, hasta la vista Baby, schnell zum Verschwörungstheoretiker. Also: Monika Grütters? Suzi Mundokys? Das Finanzamt? Die geheime Jazzpolizei? X-Jazz, das Inselleuchten, die Siebenklänge, das Oderberger Hafenfest?

Die Konkurrenz, sehr wahrscheinlich liegen die Jazz in E.-Papers bei der Konkurrenz. Wer eine beliebige Ausgabe der Fachmagazine JAZZTHETIK oder JAZZthing durchblättert, wird überrascht feststellen, dass es in Deutschland inzwischen mehr Jazzfestivals gibt als Schützenfeste. Wettbewerb ist schön, Beliebigkeit eher unerfreulich. So mancher Festivaldirektor dürfte sich fragen, wie es der Muszynski in Eberswalde schafft, seit Jahren Abend für Abend ein „Ausverkauft!“ an seine Festivaltür zu hängen - ohne dahinter (wie so manch renommierter Wettbewerber) mit Blaulicht angestrahlte Wohlfühlmusik zu spielen. Was also, verraten die geheimen Muszynski-Mails über die Meta-Ebene von Jazz in E. 2018?

In der Nacht vor PurPur, der kleinen Sommerschwester von Jazz in E., hatte es im Vorjahr wie aus Kannen geschüttet. Die Lichtung im Forstbotanischen Garten stand unter Wasser. Am folgenden Nachmittag, die Sonne brannte, musizierte hier die Band „A pony named Olga“. Irgendwann hielt es Heini Heimpel, den Sänger, kaum mehr auf der Bühne: „Wir spielen jetzt noch ein Stück, dann machen wir ne Pause und springen alle nackig in die Pfütze.“ Dazu kam es dann doch nicht, vielleicht scheuten sich die Olgas, die Eberswalder Studentenkinder aus dem Modder zu vertreiben. Aber wenn, wenn es denn wirklich zur infernalischen Schlammschlacht in E. gekommen wäre: Udo Muszynski wäre als erster hinterher gesprungen. Hätte eine formidabel synkopierte Arschbombe hingelegt. Hätte den trockenen Knall seines Aufprallens, das Crescendo des wegspritzenden Wassers, das schmatzende Geräusch seines Einschlämmens von Tim Altrichter am Mischpult aufnehmen lassen, anschließend durch die Beatbox, die Dub Machine, die Loop Station und letztlich Audiotunes gejagt, um dann, noch mit Schlamm im Haar, zu verkünden:

Break!

Hm. Hm? (Unverständnis unter den Jüngern, wie zu Beginn fast immer.)

Erklärung (hintersinnig lächelnd): Jazz in E. 2018 soll sozusagen eine Arschbombe werden!

Ja klar. Jetzt waren natürlich alle Aktivisten dabei.

Blogfoto1 Und dann das: Der Muszynski reanimiert den Jazzrock! Dabei war der doch schon tot, als AMIGA ein Best of von John McLaughlins Mahavishnu Orchestra veröffentlichte, also 1979. Jazz und Rock zu verbinden, galt jahrzehntelang als nachgerade peinlich. „Miles Davis‘ Versuche, seine eigene Art von Rock zu entwickeln“, schrieb beispielsweise einst Peter Rüedi in der Zürcher Weltwoche, „stießen auf das Entsetzen aller, die gerade ihn als einen Statthalter des guten Geschmacks im Jazz feierten.“ Muszynskis Kniff: Er holt „die Energie der Rockmusik“ nicht über die Trompete zurück oder, was nahe gelegen hätte, über die Gitarre. Er stellt das Schlagzeug ins Zentrum seines Festivals. Vielleicht, sehr wahrscheinlich, sind es heute ja vor allem die jungen Schlagzeuger, die den Jazz vom ewigen Retroverdacht befreien. Einfach schon deshalb, weil sie mit anderen Sounds aufgewachsen sind als die Schlagzeuger der 50er bis 70er Jahre.

Zu vermuten ist außerdem, dass Udo Muszynski auf seinem Telefon eine Erinnerung eingerichtet hatte: 1918, vor einhundert Jahren, brachte die Ludwig Drum Company aus Chicago das erste Schlagzeug auf den Markt, bestehend aus Basstrommel, Snare, Hi-Hat, Tom Toms und Becken. Zwei Fußpedale erlauben es dem Trommler seitdem, vier Instrumente gleichzeitig zu spielen. Ein Jubiläumsfestival wird es damit also auch.

Was die individuelle Programmentscheidung angeht, fühlt sich dieser Blog natürlich der praktischen Lebenshilfe verpflichtet. Erster Tipp: Festivalpass kaufen und alles anhören! Wer dies nicht kann oder will und sich mit dem Programmheft in der Hand bei der Auswahl quält, mag sich nach einem Prinzip festlegen, das die Berliner Zeitung einst erfand, um am Jahresende die CD-Empfehlungen ihrer Redakteure zu platzieren:

Musik für eine gebildete Tante: Dritter Festivalabend

Musik für einen schlimmen Neffen: Zweiter Festivalabend

Musik für einen verwöhnten Vater: Erster Festivalabend

Musik für eine vergnügungssüchtige Familie: Vierter Festivalabend

Foto: Heini Hempel (A Pony named Olga) beim Purpur Fest 2017. Dieses Foto haben wir uns von Steffen Groß "geborgt".

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